Die Schulzeit und die Gewalt während der Nazizeit

ewalt in der Schule hat in Deutschland eine sehr lange Tradition. Geprügelt wurde meist aus nichtigem Anlaß. Langeweile, ein Blick aus dem Fenster, Schwätzen oder Unaufmerksamkeit reichten bei vielen Lehrer(innen) aus, um ihre "Schutzbefohlenen" gnadenlos zu verprügeln. Manche Lehrer verprügelten die Kinder aus purer Lust, um ihre Aggressionen oder ihren Frust los zu werden. Die Folterwerkzeuge reichten hier vom derben Haselnusstock bis zum feinen Rohrstock, der bestialische Schmerzen verursachte. Ohrfeigen, Kopfnüsse und die "Ohren langziehen" waren weitere Schikanen denen Schüler damals ausgesetzt waren.
In dem lesenswerten Buch von Daniel Kehlmann "Die Vermessung der Welt" wird von dem achtjähigen Schüler Carl Friedrich Gauss (*30.04.1777 / +23.02.1855) berichtet, daß der Lehrer seiner Klasse schwierige und schwere Aufgaben stellte, die ohne Fehler kaum zu lösen waren, um einen Grund zum Prügeln zu haben. Eine dieser Aufgaben war, alle Zahlen von eins bis einhundert zu addieren und sollte dem Lehrer einen geruhsamen Vormittag bescheren. Drei Minuten später stand C.F. Gauss mit seiner Schiefertafel vor ihm, auf dem nur eine Zahl, das Ergebnis stand 5050.
Das konnte, das durfte nicht sein, Gauss bekam erst seine Tracht Prügel und musste dann dem verdutzten Lehrer erklären, wie er das errechnet hat. Mit schlotternden Knien und schmerzendem Hinterteil begann er zu dozieren: 100+1=101, 99+2 ergibt 101, 98+3=101, 97+4=101, so könne man das bis 50 weitermachen, ergo 50 mal 101=5050, genial. Immerhin legte sich der prügelnde Lehrer für eine weiterführende Schule und Studium seines Zöglings ins Zeug.

Ostern 1939 wurde ich eingeschult. Wir malten "Spazierstöcke" auf die Schiefertafel. Meine Lehrerin, Fräulein Haves war eine liebenswerte Lehrerin. Im Mai unternahm sie mit uns eine Wanderung in die "Klosterwiesen", hier blühten abertausende Schlüsselblumen. Aufgabe: Wir sollten zum bevorstehenden Muttertag einen Strauß Schlüsselblumen pflücken. Zur Freude unserer Mütter erledigten wir diesen Auftrag mit Bravour. Die Freude über unsere Lehrerin war leider nicht von langer Dauer, denn sie heiratete den Arenberger Hotelier Hans Löhner. Die erste Schulklasse war vollzählig zur Gratulation angetreten, wie es damals hieß. Am 1. September 1939 begann der 2te Weltkrieg. Einige Wochen später, stand eines Morgens plötzlich eine Junge Lehrerin vor uns, sie sei in Vertretung für Frau Löhner hier, sie sei krank. Nach ein paar Tagen hieß es, Frau Löhner sei gestorben. Niemand aus meiner Schulklasse war sich der Endgültigkeit und Tragweite dieser Tatsache bewusst. Wir waren alle traumatisiert. Fräulein Mittelmann war uns eine strenge, aber gute Lehrerin. Wenn es ganz hart wurde, benutzte sie auch schon mal einen Haselnusstock, um sich Achtung zu verschaffen. Sie brachte uns (con Amore) das deutsche Volkslied nahe. Angefangen bei "In einem kühlen Grunde da geht ein Mühlenrad..." einem Lied das Josef von Eichendorff während seines Studiums in Heidelberg dichtete und Friedrich Silcher vertont hat. Ein weiteres Gedicht vom gleichen Autor "Abschied vom Walde" O Täler weit o Höhen... vertonte kein geringerer als Felix Mendelsohn Bartholdy, beide wurden zu sehr bekannten Volksliedern. Neben den Liedern von Franz Schubert und den vielen anderen Komponisten, wurde in der Klasse alles gesungen. Rechnen und Schreiben war fast Nebensache. Es wurde gesungen im Canon, zwei, drei, vierstimmig, abwechselnd, zusammen. Do Re Mi Fa So La Ti Do konnte jeder vorwärts und rückwärts aufsagen und intonieren. Sie war mein Schwarm, ich hing an ihren Lippen wenn sie uns von Beethoven, Bach, Mozart oder Franz Schubert erzählte, den sie besonders wegen der Schubertlieder verehrte. Fräulein Mittelmann heiratete einen Herrn Müller. An Hochzeiten hatte die Klasse schlechte Erinnerungen. Frau Müller blieb noch ein paar Wochen, dann wurde sie versetzt, das muss wohl mitten im zweiten Schuljahr, also um 1940/41gewesen sein. Fräulein Schneider war ca. 17 Jahre alt, als sie die Schulklasse übernahm. Diktate, Aufsätze, Gedichte auswendiglernen und aufsagen waren Alltag, aber Kunst, Kultur und Gesang, Fehlanzeige.

Mein Schulbanknachbar hieß Hänschen (Hans) Flor. Ein Junge aus dem Kinderheim, der hungrig und keine Ruhe gab, bis er mein Pausenbrot bekam. Hänschen bückte sich unter die Schulbank und biss gierig in das Brot. Das störte aber den Unterricht, die Prügel bekam regelmäßig ich, denn Hänschen, eher schmächtig und unterernährt wollte sie offenbar nicht noch für den Hunger bestrafen. Diese Prozedur lief täglich in gleicher Form ab.
Ich musste beide Hände vorhalten und sie schlug drei viermal mit einen dicken Haselknüppel zu. Irgendwann war ich die Sache leid, als sie zuschlug hielt ich den Stock fest und sie war nicht in der Lage mir den Stock aus den Händen zu winden. Als sie aus Hilflosigkeit zu weinen anfing war ich zunächst verblüfft und liess den Stock los. Sie rannte aus der Klasse schnurstraks zum Hauptlehrer Büttgen, der eher einem grobschlächtigen Metzger, denn einem Lehrer glich. Beide kamen in die Klasse und ich wurde nach "Oben" zitiert, dort wurde ich nach allen Regeln der Kunst mit einem Rohrstock verprügelt. Mein Hinterteil schmerzte und zur Kühlung setzte ich mich eine Weile auf die Steintreppe. Danach ging ich in die Klasse zurück, machte wohl aber keinen zerknirschten Eindruck, einige sagten ich habe gelacht. So sah das wohl auch Fräulein Schneider, in der Pause auf dem Schulhof stand plötzlich Büttgen vor mir und gab mir "coram publico" mit der flachen Hand eine Ohrfeige die sich gewaschen hatte, dabei sagte er: So jetzt lachst du nicht mehr. Prügel in der Schule oder zu Hause waren an der Tagesordnung und augenfälliges Zeichen von Hilflosigkeit. Fräulein Schneider heißt nun Giefer und wohnt in Immendorf, mittlerweile eine alte Frau.

Lehrer Jordan, ein übereifriger Erznazi hatte von den Nazischergen die Massenexekution übernommen. Wer im Verlauf des Unterrichts "negativ" auffiel, musste sich vor die Klasse stellen. Am Ende der Stunde legte er seinen 4m langen Stock auf den Boden und alle Delinquenten mussten sich mit den Zehenspitzen an dem Stock ausrichten. Er hob den Stock auf, dann kam das Kommando bücken und gleichzeitig sauste der Stock herunter.

Hänschen Flohr wollte mir unbedingt das Kinderheim zeigen, also ging ich dorthin. Damals hatte das Kinderheim noch eine kleine Landwirtschaft, mit Kuhstall und Heuschober, dort oben tobten wir uns aus. Das blieb der zuständigen Schwester, die mühelos einen Zentner Kartoffeln wuchten konnte nicht verborgen. Hänschen wurde furchtbar verprügelt. Danach wollte sie mich auch verprügeln, ich nahm "Haltung" an und stellte mich kerzengerade vor das bedrohliche Ungetüm. Dann sagte ich drohend mit lauter Simme: "EINEN HITLERJUNGEN SCHLÄGT MAN NICHT" Die Wirkung war frappierend, sie wurde leichenblass im Gesicht und erstarrte förmlich zur Salzsäule. Der Ausspruch stammte aus dem Film "Quax der Bruchpilot" mit Heinz Rühmann und während der Vorführung des Films dachte ich mir, diesen Satz musst du dir unbedingt merken. Mit Erfolg, wie man sieht, ich kam jedenfalls ungeschoren davon.

Mir wurde berichtet, auch der damalige Pfarrer in Arenberg Dr. Erhard Leclerc habe noch nach dem Krieg Kinder, sogar in der Kirche verprügelt. Von den verbalen Prügeln, die genau so schlimm waren soll hier nicht die Rede sein.
Erst in den 1980er Jahren wurde die Prügelei in den Schulen per Gesetz verboten, seitdem gibt es aber andere Probleme.

Prügeln ist aber auch heute noch weltweit verbreitet. Das Schlagen der Kinder ist immer noch eine gängige Bestrafungsmethode
Eine Tracht Prügel oder andere Formen der körperlichen Züchtigung von Kindern sind immer noch weltweit verbreitet. Iinternationale Forscherteams haben in mehreren Studien herausgefunden. In den USA werden immer noch fast 80 Prozent der Vorschulkinder von ihren Eltern geschlagen. Die Art der Gewaltanwendung und deren Häufigkeit variiert sowohl zwischen den sechs erforschten Ländern als auch innerhalb. Die Einkommensverhältnisse haben dabei keinen eindeutigen Einfluss auf die Bereitschaft zur Gewalt. Gesetzliche Verbote zeigen den Ergebnissen zufolge einen positiven Effekt: Staaten, in denen körperliche Züchtigung unter Strafe steht, weisen eine geringere Gewaltrate gegen Kindern auf.



Konrad Weber im Juli 2010