Johanna Solf, Denkschrift über meine Haft, Genf 1947

Quelle: Archiv Eugen Solf, Kronberg Taunus
der mir freundlicherweise fur den  bewegenden Beitrag seiner Großmutter Abdruckgenehmigung erteilt hat.
Konrad Weber

Denkschrift über meine Haft.
Frau Hanna Solf, geb. Dotti z.Zt. Genf, den 6.2.1947

Ich wurde am 12.1.1944 früh morgens in der Wohnung meiner Schwester, Fräulein Dotti, verhaftet, wohin ich als Bombenflüchtling aus Berlin drei Wochen vorher gekommen war. Vier Gestapobeamte und zwei Kriminalsekretärinnen drangen in die kleine Wohnung. Ich durfte mich nicht mehr bewegen, musste mich in Anwesenheit der Beamtinnen anziehen, während die Leute vom S.D. die Zweizimmerwohnung durchsuchten. Nach etwa einer Stunde erklärte mir der Komissar STRÜBING (Hauptsturmführer), ich müsste nach München ins SS-Hauptquartier überführt werden und, aus Verdunklungsgefahr, wurden meine Schwester, ihre Hausgenossin, Frl. Richter und meine Tochter, die im Nebenhaus wohnte, mitgenommen.
In drei Automobilen wurden wir zur Briennerstrasse nach München gebracht, wo ich gleich einem fünfstündigen Verhör unterzogen wurde. Am Nachmittag wurde damit fortgefahren. Die Unterbringung war vollkommen provisorisch und unwürdig, fünf Personen in einer Art Nebenraum ohne Fenster nach aussen. Die Vernehmungen bezogen sich zuerst auf meinen Freundeskreis, später aber hauptsächlich auf eine Zusammenkunft bei Frl. von Tadden im September 1943, wo ein Gestapo-Agent sich durch den Brief einer Freundin unserer Gastgeberin eingeführt hatte. Es handelte sich um den berüchtigten Dr. Paul RECKZEH, der als sogenannter V-Mann etwa 50 Menschen auf diese Weise angezeigt hat und ihnen zum Verhängnis wurde.

Am zweiten Abend wurde mir bedeutet, dass ich nach Berlin ins Reichs-Sicherheitsamt-Hauptamt gebracht würde, die drei anderen Damen blieben in München in Haft. Unter Bewachung von vier Gestapobeamten wurde ich im D-Zug nach Berlin gebracht. Nachts um 12 Uhr angekommen, wurde ich gleich im Auto nach Sachsenhausen überführt, immer unter strengster Bewachung, und wurde in einer Baracke des K.Z. untergebracht. Tag und Nacht waren zwei Kriminalsekretärinnen bei mir und mussten mich sogar auf die Toilette begleiten. Wie ich später erfuhr, waren Frl. v. Tadden und Frl. Zarden, die beide in demselben Fall verhaftet waren, auch dort. Man war dort noch verhältnismässig gut untergebracht. Auch das Essen war gut. Alle paar Tage wurde man im Auto in die Prinz-Albrechtstrasse, nach deren Ausbombung zum Kurfürstendamm gebracht, um stundenlangen Tag- und Nachtverhören ausgesetzt zu sein.

Die beiden Kriminalbeamtinnen, alte Polizeibeamtinnen, benahmen sich gut. Sie sahen ein, dass wir nicht die Verbrecher waren, sondern diejenigen, die uns eingesperrt hatten. Ich kann ihnen nur meinen Dank und meine Anerkennung sagen für den Mut, den sie aufbrachten (Frl. Mussgnug und Frl. Frieda Schulz)

Nach drei Wochen wurde alles verschärft und wir wurden ins K.Z. Ravensbrück gebracht, wo inzwischen Herr Otto Kiep mit seiner Frau als Geisel, Frl. Kurowsky und Herr v. Scherpenberg, alle in demselben Fall, hingebracht waren. Ich fand ausserdem die Freunde meines Kreises vor, die schon seit einem halben Jahr festgenommen waren: Geheimrat Kuenzer, Graf Albrecht Bernsdorf. Zwei Monate später kam auch meine Tochter dorthin.

Die Verhöre wurden immer schwerer bei täglichen Drohungen. Nachts wurden oft Kontrollen gemacht, bei denen alle halben Stunden das Licht in den Zellen angedreht wurde und man dadurch natürlich noch weniger Schlaf fand als sonst. Fast alle meine Freunde wurden aufs Schwerste gefoltert, so Kiep, Richard Kuenzer, Albrecht Bernsdorf, Mumm, Halem (der später erschien) und auch Unbekannte, deren Schreie man aus den Zellen hörte.

Ich selbst bekam 3xWochen lang Hungerkost, darauf abends ein Schlafmittel, und wurde dann eine Stunde später geweckt, musste mich in grosser Eile anziehen und wurde dann die ganze Nacht hindurch mit ständigen Drohungen verhört, bis ich um 7 Uhr morgens ohnmächtig zusammenbrach. Es handelte sich hauptsächlich um Aussagen gegen Andere, um Zusammenkünfte, die bei mir stattgefunden hatten und um Besprechungen alle Art. Beleidigungen, Bedrohungen, Verdrehungen dessen, was man gesagt hatte, machten die Verhöre zu einer besonderen Qual.

Zum Abschluss für meinen Prozess wurde mir einmal Gelegenheit gegeben, Dinge zurückzunehmen. Als ich es nicht tat, wurde als Schlussvermerk, der, wie man mir sagte, entscheidend für das Urteil beim Volksgericht war, niedergeschrieben: „Frau Solf sagte uns wissentlich die Unwahrheit, sie bekennt sich als Gegnerin des Nationalsozialismus und ist offensichtlich bösen Willens“.

Man hatte mir ausserdem gesagt: "Wenn Sie nun zum Tode verurteilt werden, denn kein Staat lässt sich das gefallen, was Sie und Ihre Freunde begangen haben, so können Ihre Söhne natürlich nicht mehr Offiziere sein etc".

Auch wurde mir in Bezug auf meinen verstorbenen Mann gesagt: "Dem werden Sie ja bald die Hand reichen können“.
Anfang Juni kam Frl. v. Tadden, Frl. v. Kurowsky, Frl. Zarden und ich ins Zuchthaus nach Kottbus. Dort war die reine äussere Behandlung schlechter, man wurde eben als Zuchthäusler behandelt, aber die ständige Aufregung der Tag- und Nachtverhöre, denen Frl.v.Tadden und ich ausgesetzt waren, (ich habe 19 Verhöre nie unter 8-10 Stunden gehabt), hatten dort aufgehört. Uns wurde gesagt, wir kämen nunmehr vor das Volksgericht. Drei Wochen warteten wir darauf. Am Vorabend unseres Termins wurden wir nach Berlin geschafft, ohne vorher die Anklageschrift zu sehen bekommen zu haben. Im letzten Augenblick erhielten wir sie. Sie lautete auf Hochverrat, Landesverrat und Wehrkraftzersetzung. Die Hauptangeklagten waren Frl.v.Tadden, Herr Kiep und ich. Der Prozess fand am 1. 7. 1944 statt und dauerte von früh 8 Uhr bis nachts 11 Uhr.

Präsident Freissler schrie uns während der ganzen Stunden in seiner üblichen zynischen Art an, nachdem man uns aus den unterirdischen Kellern mit drei Scheiben trockenem Brot in den Gerichtssaal entlassen hatte.
Dr. Reckzeh gab am Nachmittag sein falsches, von der Gestapo einstudiertes Zeugnis ab: ich hätte ihm den Auftrag gegeben, in der Schweiz mit Emigranten und Neutralen über eine Friedensannäherung mit den Westmächten zu verhandeln.
Vor den Plädoyer's sagte Freisler: „Angeklagte Solf, Sie können den Gerichtssaal verlassen. Sie sind stark belastet, aber ich muss noch andere Erhebungen über Sie machen“. Meine beiden Leidensgefährten Tadden und Kiep wurden zum Tode verurteilt und später hingerichtet.

Ich konnte mich keinen Hoffnungen hingeben, denn ich wusste, dass ich in diesem Fall wenig belastet war und meine eigentlichen Freunde und Mitarbeiter noch der Aburteilung harrten. Ich kam zuerst zurück nach Moabit und nach sechs Tagen holte mich einer der S.D.-Beamten wieder ins K.Z. nach Ravensbrück ab. Dort war meine Tochter noch und niemand wusste, was mit uns geschehen sollte.

Dann kam der 20. Juli und damit eine neue Phase von Wut der Gestapo und der Qual für uns. Ich kam in eine der Nordzellen im Keller auf Strohsack und Pritsche, ebenso meine Freunde Kuenzer, Bernsdorf, Peschel u.a. Nach etwa zehn Tagen wurde mir eröffnet, ich würde abtransportiert, wohin wusste mir keiner zu sagen. Dies war ja eines der Hauptmittel, die Menschen mürbe zu machen: Einschüchterung, Drohung, den Angehörigen etwas zu tun, in Ungewissheit zu lassen und durch mindere Ernährung uns seelisch und körperlich zu zermürben und dann zu Geständnissen zu bringen.

Nach drei Wochen in Moabit, wo man von dem Gros der Beamten schickaniert und erniedrigt wurde, kam ich, da man vorerst mit den Angeklagten des 20. Juli fertig werden wollte, nach Kottbus ins Zuchthaus. Um ¾ 5 Uhr musste man aufstehen, was in der späteren Jahreszeit Kälte und frühe Dunkelheit bedeutete, und den ganzen Tag arbeiten: Uniformknöpfe annähen. Unzählige politische Untersuchungsgefangene waren dort neben den schon Verurteilten. Unter Letzteren befand sich auch Frau Rudolf Peschel, mit deren Gatten ich in Ravensbrück zusammen gewesen war. Leider sind mir die Namen meiner Leidensgenossen entfallen, soweit ich sie überhaupt erfahren hatte. Es war aufs Strengste untersagt, miteinander zu sprechen. Junge Frauen und Mädchen, alte Damen, alle Stände, alle Bildungsgrade waren vertreten, die einfach fühlten, es gäbe etwas zu verteidigen, das höher war als das Vaterland und geographische Grenzen: die Humanität, das Christentum und das Recht. Niemand gab nach, alle nahmen das schwere Los auf sich. Gerade unter den Frauen hat man wunderbare Beispiele von Mut und Kraft erlebt. Wieviel Namenlosen möchte ich ein Denkmal setzen. Ich glaube, die Geistlichen beider Konfessionen können Zeugnis davon ablegen, wie ruhig und mutig fast alle den letzten Gang angetreten haben. Die Behandlung war im Grossen und Ganzen nicht gut, denn man war ja ständigen Beleidigungen ausgesetzt. Ich muss aber deshalb ganz besonders Diejenigen hervorheben, die trotz des furchtbaren Terrors, dem auch die Beamten ausgesetzt waren, sich mutig zu uns bekannten und grosse Gefahren auf sich nahmen, um unser Los zu erleichtern. Es war im Zuchthaus Kottbus die erste Hauptwachtmeisterin Küssner und die Hilfswachtmeisterin Krüger sowie die Pfarrfrau. Sie alle haben einen grossen, moralischen Mut gezeigt. Frl. Krüger hat sich, da sie Dolmetscherin war, ganz besonders verdient gemacht um die dreihundert zum Tode verurteilten Französinnen, die im November 1944 nach Ravensbrück geführt wurden. Auch den fünf zum Tode verurteilten Holländerinnen gegenüber, die begnadigt wurden und dort verblieben.

Was man an menschlichem Jammer sah, wie Kranke behandelt wurden, kann man gar nicht beschreiben. Der Zusammenhang aller Nationen war vorbildlich, denn wir fühlten uns verpflichtet, den Ausländern alle noch so kleinen Hilfen zu geben, und wenn es nur ein Wort der Sympathie war. Und sie wussten, dass wir um dieselbe Sache gelitten und gekämpft hatten: Die Befreiung von einem Terror-Regiment, das uns alle bedrückte. Ende November 1944 bekam ich meine zweite Anklageschrift: „Solf und Andere“ zum Termin am 13. Dezember 1944. Meine Tochter figurierte auch in dem Prozess und war schon in Moabit, als ich am 1.12. dort hinkam. Hunger und Kälte fingen an, unsere Kräfte aufzuzehren. Dazu kamen die Bombenangriffe Tag und Nacht. Wir wurden niemals in den Keller geführt, sondern blieben eingeschlossen in der zweiten Etage. Der Prozess wurde aufgeschoben. Meine Freunde Kuenzer, Bernsdorf und Erxleben waren mit in meinem Prozess angeklagt, der wiederum auf Hochverrat, Landesverrrat und Wehrkraftzersetzung lautete.

Die Einsamkeit der ungeheizten Zelle, in der die Scheiben meist fehlten, die immer geringer werdende Nahrung, die Arbeit, der ich oft nicht gewachsen war, der Gedanke an meine Söhne im Felde, die immer spärlicheren Nachrichten: alles bedurfte einer grossen Kraft, um nicht zu unterliegen.

Eine stete Quelle der Ermutigung waren meine Geistlichen, Pfarrer Poellchau, der viel Mutiges für mich riskierte, und Oberpfarrer Knodt, die gottlob noch zugelassen waren. Neben der, bei den Deutschen so gern gezeigten Macht gegenüber Wehrlosen, habe ich aber dort auch Beweise von Güte und moralischem Mut gefunden. Wenn man den unvorstellbaren Terror kennt, der mit dem Schwinden der Macht des Naziregiments naturgemäss immer schrecklichere Formen annahm, so kann man dies gar nicht genug loben. Der Assistentin des Frauengefängnisses, Frl. Giensky und einigen der Wachtmeisterinnen schulde ich viel Dank. Sonst waren wir immer schlimmeren Schikanen und Beleidigungen ausgesetzt. Die Nahrung wurde minimal, die Kälte von etwa 2-3 Grad fast unerträglich und dazu die ständige Vorbereitung auf den Schaffott. Unsere Leidensgefährten waren auch dort von einer grossen Solidarität und wir haben rührende Beweise von allen Schichten der Bevölkerung. Wie viele wurden damals, ehe mein Prozess kam, zum Tode verurteilt. Wie oft waren die Todeskandidatinnen in meiner Nebenzelle. Nur einmal habe ich lautes Weinen und Jammern gehört von einer jungen, vom Volksgericht zum Tode verurteilten Frau.

Alle nahmen ihr schweres Schicksal mit Würde auf sich. Da ich in einem Jahr neun Mal hin- und hertransportiert worden war, habe ich durch den Wechsel der Gefängnisse sehr viele verschiedene Frauen kennen gelernt und kann beurteilen, wie unendlich viele gegen den Naziterror standhielten. Mein Prozess wurde auf den 5. Februar 1945 festgesetzt. Am 3. 2. war einer der schwersten Tagesangriffe auf Berlin. Nichts wurde uns gesagt, aber ein Gefangener, aus dem Männerhaus kommend, der uns Frauen oft Nachrichten aus der Aussenwelt brachte, flüsterte mir im Vorbeigehen zu: „Freysler ist tot! Kein Volksgericht mehr!“

Ich wollte es nicht glauben, aber als ich den Besuch meiner Schwester einige Tage darauf haben durfte, hat sie mir es durch Zuwinken bestätigt. Nun war eine Hoffnung, dass mein Leben aus dieser Katastrophe heraus kam. Denn die russischen Truppen standen schon in den östlichen und nördlichen Stadtteilen Berlins. Unzählige Gefangene waren schon entlassen worden; die Kriminellen zuerst, dann die leichten politischen Fälle. Der Hunger, die Angriffe bei Tag und bei Nacht, die Ungewissheit über unser Schicksal, dazu die zunehmende Nervosität der Beamtinnen, alles das schaffte eine Spannung in uns, die mit allerletzter Kraft und nur im Glauben, einer hohen Sache gedient zu haben, bekämpft werden konnte. Am 20.April waren alle Richter und der Volksgerichtshof geflohen. Am 23.April früh wurde mir noch vom Chef des Moabiter Untersuchungsgefängnisses mitgeteilt, dass keine Rede davon wäre, uns frei zu lassen. Am Abend gelang es jedoch dem entschlossenen Eingreifen des Dr. E. L. HEUSS, Frau Elsass, deren Gatte schon ohne Gerichtsverfahren ermordet war, als Freund von Goedeler, mit Tochter und mich mit meiner Tochter, mit einem Handstreich aus dem Gefängnis zu holen. Dr. Heuss hatte den letzten anwesenden Justizbeamten, Min. Dirigent Herr, der im Gefängnis vorfuhr, um Brot zu erbetteln, die Erlaubnis abgerungen, uns frei zu lassen. Eine Stunde später erfuhr Goebbels davon, er war Reichsverteidigungskomissar, der zwar einverstanden war, die kriminellen Verbrecher zu entlassen, nicht aber die politischen, da sie „Unruhe in die Bevölkerung tragen würden“. Im Chaos der Strassenkämpfe, der Bomben und Schrappnells konnte man uns jedoch nicht mehr finden.

Die gleiche Aktion, die der mutige Dr. Heuss im Männergefängnis einleiten wollte zur Rettung all der Freunde, die im engeren und ferneren Zusammenhang mit uns standen, gelang nicht mehr. In derselben Nacht wurden sie fast alle durch Genickschuss „erledigt“

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s.dazu auch Prof. Dr. Dr. Friedrich Erxleben und der Solfkreis

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